Inventur. Kindheiten. Wuchs.
geschrieben in Söhlengraben
1. INVENTUR
1.1.
das ist alles wahr:
gerüste im himmel, zielfernrohre
hitzeträge schatten auf zerklüftetem asphalt
die taubheit meines kunststoffs
erst gehen spinnenbeine mich ab
wie tragbare updates ins ungewisse
dann erklimme ich diesen carbonhügel & schaudere
die kräne am hafen sind komplizierte skorpione
heben erbstücke, lasten & balancieren sie gegen die luft
1.2.
in einem anderen lagerhaus vergeht die zeit
junge birken & wolken simulieren einen koop-schauer
fern kreischen die möwen, kähne
die flechte liegt zerrieben auf dem metallanzeiger
& ergibt sich der erinnerung vertikal
ich spurenlese stickereien, doch diese weggabel ist gefälscht
jemand sammelt juwelen auf seinem smartphone & verschwindet
1.3.
der zyklop im baumstumpf erkennt mich babyblau
als abdruck zwischen fasern, larvenpuppe im morschen holz
die landkarte einer fäulnis
ich spreize meine pseudodornen
ahme den wind in einer abgelegten taubenfeder nach
& streife meinen panzer ab, um dies gewand zu bewohnen
darin zu lauern wie ein umständliches wort
ein niedriger hund, glasperlen um den hals, ist allein
ich bewerfe ihn mit blüten & noch kleineren items
1.4.
die baumgruppen bewahren etwas auf:
lücken
gerippe, die in die höhe zeigen
belohnungen fürs einnisten
nester voller mana
2. KINDHEITEN
2.1.
als kind errichtete ich einen staudamm & ging barfuß im bach spazieren. dabei schlitzte ich mir an einem ungewöhnlich spitzen stein meine aufgeweichte fußsohle auf. ich bemerkte die wunde erst, als ich auf dem asphalt zum haus meiner eltern zurücklaufend, mich umdrehte & purpurne abdrücke mich verfolgen sah. als dann der schmerz kam, wiesen diese spuren von mir fort. sie schienen, jemand anderen zu verfolgen.
später, mit versorgter wunde, ging ich zurück an den bach & beobachtete die ruderwanzen im stehenden wasser. wann immer sie sich bewegten, legten sie konzentrische kreise um sich.
ich spürte, wie etwas in mir zusammenschnappte & begriff, dass genau das die vogelperspektive der flügellosen war. auch diese sehnsucht kam als levelbasierte prüfung.
2.2.
als kind schuf ich mir im wald eine hütte aus grauem totholz. die blätter, mit denen ich das dach deckte, waren riesig in meinen kindlichen händen. ich stellte mir vor, dies seien die abgeworfenen schilde einer botanischen armee.
in der hütte gab es einen großen stein & dessen oberseite war eingedellt. in der vertiefung zerrieb ich trockene pflanzenteile, beeren & manchmal tote insekten, die in einer bestimmten jahreszeit überall herumlagen wie in-game währung.
während ich diese pulver zubereitete, spürte ich die anwesenheit einer hexe. sie schien mich anzuleiten & auszubilden. häufig hörte ich meinen namen im rauschen der blätter.
wenn ich das pulver dann in den bach rieseln ließ, wünschte ich mir ein optisches upgrade, paranormale röntgenaugen.
2.3.
als kind kletterte ich häufig auf einen hochsitz am waldrand & beobachtete die rehe, die in der dämmerung gelblich waren & über das abgemähte feld liefen, manchmal auch stehenblieben wie versteinert. ich zog dann mit meinen kurzen fingern linien in die leere luft zwischen ihnen, um sie taktisch zu verbinden & griff imaginäre fäden, um sie zu dirigieren.
auf der sitzfläche des hochsitzes war eine telefonnummer eingeritzt und daneben stand: eric will ES immer, wobei das ES groß geschrieben war und aussah wie eine brandende welle von oben.
als mutprobe rief ich erics nummer jedes mal an, wenn ich dort saß. der freiton kam und über mich eine gänsehaut, doch es nahm nie jemand ab. wenn dann das klingeln verstummte, sah ich die rehe in den schnellreiseportalen verschwinden.
3. WUCHS
3.1.
erinnere stabinsekten, die mimikry-skorpione
ihr aufgeregtes rascheln beim angriff
zwischen den fächerbeinen komprimierte luft
schau hier haben die wassertropfen meine papierhaut getroffen
die deformierten letter sind ein bluff
glänzender balsam auf alten kokons
unterm federbaum, erstarrt
& die kinder tragen rosa vapes anatomisch als verlängerung
3.2.
von mundwerkzeugen hinterlassene rindenfetzen
markieren eine abwesenheit
in mittlerer höhe wehen die pollen
eine choreografie aus zittern, zurückweichen usw.
ich zerbrösele das blatt vom vorjahr mit meiner quasisynonymen hand
bette mich weich
& zähle die ameisen subkutan
3.3.
ein zauberspruch
bionisch, verknöchert
ich verwende die skillpunkte für eine moosrüstung
& schaue der schwarzen raupe beim fressen zu
der knöterich steht wie ein bald erntereifes heer
darin speichere ich den spielstand
lege mir eine ranke um den oberarm & starte von vorn
3.4.
ich ertrage die rötung als winkel, der genau hineinpasst
metaphorisch wie ein spray
bald sich häutend, bald im kalk verbeißend
ich schlittere, zerlege dieses biom in drei teile:
die fasern zwischen den videosequenzen
den flaum ohne farbwert
die geschickten vogeltiere, die unablässig fliehen
sie spielen fadenspiele
& die kinder brüllen, denn sie gewinnen zum ersten mal
Alle Texte
- »Inventur. Kindheiten. Wuchs.« von Viktor Dallmann
- »Scherbenhirte« von Christina Srebalus
- »Plankenwiese« von Anja Schwennsen
- »Heldenreise« von Judith Gridl
- »gestrüpp gut eingehegt« von Anna Egerter
- »Ich habe einen Mann aus Holz im Rücken« von Sigune Schnabel
- »Landgraben. Vom Entgrenzen« von Steffen Greiner