7 Naturen

Lübecks Naturerlebnisräume
erschreiben

Scherbenhirte

von Christina Srebalus
geschrieben in Schafberg Dummersberg

Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen, verschachtelt wie der Tod eines glänzenden Käfers, den ein Kind findet, und der von dessen Eltern in eine Streichholzschachtel gesteckt wird, um danach in einer Schublade zu verschwinden, was übrigens keinesfalls den Zersetzungsprozess aufhält und zu Schreckmomenten beim Kind führen kann, wenn es am nächsten Morgen die Schachtel aus der Schublade holt, sie öffnet, und lauter Maden herausfallen.

Der Stipendientag beginnt mit einem Fremden, der aus dem Zugfenster heraus laut abgestorbene Bäume zählt. Eine Erle, eine Buche, mehrere Nadelbäume, vermutlich Fichten. An ihnen ist abzulesen, wie trocken dieser Sommer war.

In Lübeck angekommen, merke ich, dass ich das Zählen aus dem Zug mitgenommen habe: eine tote Hummel.

In alten Sagen müssen Hexen und Teufel erst alle Linsen, Bohnen, Saat- oder Reiskörner zählen, werden sie vor ihnen ausgeschüttet. [Fußnote 1: Sollten ihnen allerdings Tauben dabei helfen, handelt es sich um Disney-Prinzessinnen.]

Knapp 340 Hektar liegen vor mir und ich habe drei Stunden Zeit. Im Rechnen war ich noch nie gut, denke ich, Hauptsache ich finde den Schafsberg und Inspiration für eine Geschichte.

Das Klappern meiner Rucksackschnalle begleitet mich, wird zum Metronom meiner Schritte, zum Metrum meiner Gedanken. Alle paar Meter steuert die Wasserflasche einen hellen Klang bei, wenn ihr Inhalt gegen das Glas schlägt. Der Rhythmus meiner Suche.

Ich komme an Bärenklau vorbei, an Leimkraut und Haferschlehe, und stehe dann in einer spröden Graslandschaft. Trockene, knochenfarbene Halme. Was soll hier noch gedeihen, leben, frage ich mich – abgesehen von den Grillen, deren sich überlagerndes Zirpen die akustische Verkörperung solcher Felder im Sonnenschein ist.

Ein Tupfen Violett im dominierenden Blassgelb gibt unvermittelt Antwort. Eine winzige Oase aus wildem Oregano präsentiert mir ein mikrobiotopisches Wimmelbild. Ich versuche vergebens all die Schmetterlinge, Hummeln und Bienen zu zählen, die emsig über die kleinen Blüten tanzen. Ein strauchgroßes Paradies in dieser scheinbaren Ödnis.

Schmetterlingen wurde einst nachgesagt, sie würden Hexen dienen und die Milch sauer werden lassen. [Fußnote 2: Das ist heute noch gut erkennbar als Ursprung des englischen Wortes „Butterfly“.]

Auf der nächsten Wiese finde ich ein mobiles Gatter. Es steht offen, von den Tieren verlassen. Doch der Geruch nach Schafsfell flirrt noch in der Luft, steigt vom sonnenwarmen Boden auf, bindet mich wie ein Zauberspruch an die Erde. Er füllt meinen Mund und meine Lunge mit Vergangenheit und ruft nach verklärten Erinnerungen an meine rumänische Heimat, die ich nur aus Erzählungen kenne.

Das Märchen von Milchweißchen und ihren Schwestern streicht über das ausgeblichene Gras und verfängt sich im Stacheldraht, wie feine Wolle von vorbeigezogenen Herden.

Ein Mistkäfer. Ein weiterer. Noch einer. Ein Schild kündigt geradeaus einen Aussichtsturm an, aber vor mir liegt eine Gabelung. Meine Karten-App ist auch keine Hilfe, also entscheide ich mich für den Pfad zu meiner Linken, folge schwarz schillernden Scherben im Staub, einer Brotkrumenspur aus toten Käfern, hinein in einen dunklen Wald. Zerbrochene Juwelen, deren Ende wie klirrendes Glas geklungen haben muss. Wie konnte jemand darauf treten?

Die Spitzen ihrer zarten Fühler sehen aus wie sich öffnende Knospen an einem verkohlten Ast, die kleinen Dellen im Panzer wie getriebenes Metall – oder wie Einschusslöcher. Stachelige Beine ragen zum Himmel empor und ich warte darauf, dass sie zucken, wachsen, die Splitter sich wieder zusammenfügen, die Zeit rückwärts läuft und in Zeitlupe, bis sie wieder ganz sind und davon krabbeln, der Gegenwart davonlaufen in eine bessere Zukunft, den Mist wegräumend, den unsere Elterngeneration hinterlassen hat.

Je nach Epoche und Religion waren Mistkäfer heilig, mit Sonne und Mond assoziiert, androgyn und Sinnbild der Erneuerung, oder sie galten als Krankheitsboten und Helfergeist böser Mächte.

Mein Blick schneidet sich immer noch an den Scherben und nach kurzer Überwindung lese ich mich in Forschungsergebnisse über Kuhfladen und Pferdeäpfel ein: Die Familie der Geotrupidae zählt weltweit über 250 Arten. Davon sind etwa 59 in Europa heimisch. Das vermehrte Sterben von Mistkäfern hierzulande sei vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen. Zum einen ist die Landwirtschaft zum Großteil zur Stallhaltung übergegangen. Zum anderen vergiftet der verstärkte Einsatz von Breitbandbioziden, wie Wurmkuren, den Dung der Nutztiere und damit die Brutgrundlage des ebenfalls nützlichen Insekts.

In Andersens Märchen wünscht sich ein Mistkäfer goldene Schuhe. Als sie ihm verweigert werden, zieht er aus in die Welt und versteht, dass nicht die Schuhe entscheidend sind, sondern der Weg, den man damit geht.

Milchweißchen lacht und erzählt mir, dass alle Schafe goldene Hufe hätten, den sogenannten goldenen Tritt. Denn die Beweidung mit Schafen regt das Pflanzenwachstum an, lässt Wurzeln kräftiger und den Bewuchs dichter werden, was den Boden vor Fluten und Starkregen schützt. [Fußnote 3: Wenn man sich die Unwetterprognosen so anschaut, sollten wir bald überall Schafe halten.]

Zwölf zerbrochene Käfer später öffnet sich der Wald vor mir und ich erreiche einen Steilhang. An manche Orte gelangt man nur, wie an Erinnerungen, an deren Rand man entlang klettert, krabbelt, bis man hineinfällt. Erinnerungen, die gut gehütet und eingepfercht wurden. Doch das Gatter stand offen, nicht wahr?

Ich rutsche den Steilhang hinab. Zuerst nur mit den Augen, dann stolpere ich hinterher, bis ich zwischen goldenen Hufabdrücken am Ufer stehe. Unter mir wirft die Trave kleinkarierte Wellen. Über mir färben Graugänse den Himmel stürmisch.

Die Rucksackschnalle schweigt nach meinem Abstieg und wird abgelöst von einem Chor aus Zikaden, dem Rauschen der Trockenwiese und dem dumpfen Bass eines Schiffsmotors. Alles vermischt sich und wird eins mit dem fernen Blöken von Schafen, die sich gegenseitig über die Hänge rufen.

Es war einmal ein Kind, das auf der Suche nach Schafen Scherben findet, die es Stück für Stück zusammensetzt, indem es sich die Welt erzählt, sie aus Schachteln und Schubladen pflückt, sich selbst daraus hervor kämpft.

Vor mir, klein und glänzend, läuft ein Mistkäfer den Hügel hinauf.

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